Jetzt weiß ich auch, warum den MNs der Nachwuchs ausbleibt. Früher war ein Staat ein Staat, der aus seinen Bürgern bestand. Heute ist ein Staat allenfalls noch ein "Projekt", das "Mitspieler" hat, häufig schon nur noch eine "Simulation" mit all ihren unbrauchbaren Subkategorien. Man füge ein bißchen "Versimoffung" hinzu sowie eine Prise "Community"-Weichspüler (wer vor vier, fünf Jahren jeden Fremden einfach geduzt hätte, als kenne man sich seit dem Kindergarten, wäre achteckig geflogen), schon hat man die Soße: ein eintöniges Browsergame, technisch weit zurückgeblieben und so austauschbar wie Stecksicherungen. Daß das niemanden mehr anzieht, sollte wirklich nicht wundern.
"Früher war mehr Lametta!" (Opa Hoppenstedt alias Vicco von Bülow alias Loriot)
Nein, an diesem Abgesang auf die Micronationen kann ich mich nicht beteiligen.
Natürlich ist es nicht mehr wie früher. Die Micronationen haben sich entwickelt. Und das Internet, dessen Teil sie sind, hat sich auch entwickelt. Lässt man Laputa (gegr. 1995) mal außen vor, das jedenfalls seit langem eher ein persönliches Weblog seines Gründers ist, datieren die ältesten noch aktiven Nationen aus den späten 1990-er Jahren. Internetanschlüsse waren damals rar gesät, quälend langsam und exorbitant teuer. Heute gängige technische Standards wie PHP oder MySQL noch Luxus oder schiere Science-Fiction.
Es fügte sich einfach gut zusammen, dass wer Zeit, Geld und Lust hatte sich regelmäßig im und mit dem Internet zu beschäftigen vielfach irgendwie auch versponnen genug war, um sich für eine Idee wie die Micronationen zu begeistern. Der Markt für Spiele, Hobbys und Freizeitaktivitäten im Internet war noch klein, die Konkurrenz für die Micronationen spärlich. Zudem gab es keine (vermeintlich) "gute alte Zeit", derer man sich wehmütig erinnern konnte. Es herrschte aufgeregter und enthusiastischer Pioniergeist.
Rund zehn Jahre später sieht die Welt natürlich anders aus. Das Internet hat mit rasanterem Tempo Einzug im Alltag gehalten als je ein Medium - sei es Buchdruck, Radio oder Fernsehen - vor ihm. In West-Deutschland lagen gut zwanzig Jahre zwischen dem Beginn eines regulären Fernsehprogramms und der Verbreitung von Farbfernsehgeräten in der Mehrzahl der Haushalte, in der DDR dauerte es noch Jahre länger. Die Evolution des Internets von einer Teststrecke, gepflastert mit zusammengeschusterten Experimentalseiten, zu einer optisch edel gestalteten Wunderwelt voll multimedialer Inhalte brauchte nur wenige Jahre.
Diese Entwicklung ist natürlich nicht spurlos an den Micronationen vorbeigegangen.
Heute ist fast jeder online. Selbst mit meiner Oma (geb. 1925) kommuniziere ich seit nunmehr letztem Jahr auch per E-Mail! Micronationen fischen nicht mehr länger nur unter der vom technologischen Fortschritt begeisterten Informations- und Kommunikationsavantgarde nach neuen Mitspielern. Praktisch die gesamte Bevölkerung ist jetzt der Markt, auf dem sie sich als Hobby feilbieten. Regelmäßige und intensive Internet-Nutzer sind absolut keine Exzentriker mehr. Micronationen konkurrieren heute mit zahllosen politisch ausgerichteten Diskussionsforen, Chats und Plattformen, mit foren- und chatbasierten Rollenspielen und Browsergames um Mitspieler.
Das alles als ihre äußere Entwicklung hat sie ebenso verändert wie ihre innere Entwicklung. Verschiedene Genres von Micronationen gibt es seit jeher. Ratelon als eine der ältesten auf realistische Politiksimulation ausgerichteten Nationen gibt es seit 1998. Bananaworld z. B. als eher humorvoll-gesellig ausgerichteter Staat besteht seit 1999. Lange bevor der Begriff der "Kultursimulation" geprägt und bewusst als dieser ausgefüllt wurde haben Micronationen reale Staaten und Kulturen nachgeahmt, sich an fiktiven Welten orientiert, an Klischees angelehnt oder in sich stimmige Fantasiewelten erschaffen.
Die Wurzeln des Community-Gedankens liegen in diplomatischen Kontakten die weiter zurückreichen als alle Weltkarten, supranationalen Organisationen und Veranstaltungen.
"Gründungsfieber" grassierte unter den Bewohnern des micronationalen Kosmos auch schon immer. Seit es Micronationen gibt, die von bis dato Außenstehenden entdeckt wurden, hatten immer viele von ihnen die fixe Idee, schnell mal selbst eine zu gründen. Das war früher fast noch einfacher als heute. Vor Jahren noch bestanden auch die Seiten "etablierter" Micronationen meist nur aus simplem HTML, das selbst Naturblondinen beherrschen Vieles war noch experimentell und rudimentär, Schnellschüsse fielen oftmals gar nicht unbedingt auf den ersten Blick auf. Zwischenzeitlich hatte der Fortschritt der Programmiertechnik hier gewisse Unterscheidungskriterien heranreifen lassen. Die wurden dann aber von der Rivalität zwischen OIK und GF wieder vaporisiert. Der Wettlauf um die Belegung für bestimmte Kulturen reservierter Kartenplätze und der Streit um die Überlegenheit des einen oder anderen Konzepts einer micronationalen Weltkarte hat sog. "Foren-MNs", deren Gründer irgendwie "langfristiges Potenzial" glaubhaft machen konnten, salonfähig und willkommen gemacht. Die Zahl der Neugründung von Micronationen stand aber schon immer außer Verhältnis zur (messbaren) Mitspielerzahl. Es wurde nur umso augenfälliger, je größer die Gemeinde der Micronationen und MN-Spieler wurde.
Induktive Fortentwicklung funktioniert nur nach dem Try-and-Error-Verfahren. Die GF hat bzw. deren Gründer haben neue Perspektiven in den Spielkosmos der Micronationen eingeführt und diese etabliert bzw. gefestigt. Einerseits ist man dem Bedürfnis einiger Nationen nach einer kulturell stimmigen Weltkarte gefolgt und hat den strukturellen Problemen einer basisdemokratischen Kartenorganisation wie der OIK zu begegnen versucht. Andererseits hat man damit unfreiwillig, aber wohl zwangsläufig, neue Probleme erzeugt: ein Gründungsfieber nach kulturellen Vorbildern samt bislang unüblicher Mehrfachbetreibungen und die Schaffung einer oligarchisch kontrollierten, teilisolierten Sub-Community. Auch diese Probleme hat man erkannt und zu bekämpfen versucht, etwa durch Reformen der GF-Satzung hin zu mehr Fluktuation und Demokratie, und durch Diskussionen in GF-Staaten über die Akzeptanz der Betreibung mehrerer Nationen.
Man sollte das Kapitel der GF nicht als Krisensymptom sehen, sondern als eine Phase eines natürlichen Entwicklungsprozesses.
Ich sagte bereits, die Micronationen haben sich wie das Internet und mit dem Internet entwickelt. Für ihre Standortbestimmung ist zunächst das Bewusstsein und Bekenntnis wichtig, dass sie alle trotz all ihrer Unterschiede im Kern eben Staatensimulationen sind. Das macht mancherorts gezogene Parallelen etwa zu "Second Life" o. ä. meines Erachtens hinfällig. Die Attraktivität und Anziehung der Micronationen steht und fällt nicht mit ihrem technischen Standard. Forenbasierte Rollenspiele in allen möglichen Spielwelten gedeihen prächtig, trotz optisch anspruchsvollerer Onlie-Spiele. Weil sie eben eine klare Definiton haben, worum es ihnen geht und welche Zielgruppe sie ansprechen möchten. Ob eine Micronation ihren Fokus nun auf reine Politik, die Entwicklung einer virtuellen Kultur oder Gesellschaft, die Rekopnstruktion einer historischen Epoche oder auf Humor und Geselligkeit legt - die Micronationen müssen sich bewusst sein und bewusst nach außen transportieren dass sie sich an potenzielle Mitspieler richten, die einen virtuellen Staat mitgestalten wollen.
Ob nun als eher diskussionsbasierte Politik-Community, als Miniatur einer realen oder fantastischen Kultur, als gegenwärtiges oder historisches Rollenspiel oder als Satire auf was auch immer - das grundsätzliche Prinzip "forenbasierte Staatensimulation" ist alles andere als veraltet oder unattraktiv! Es muss sich nur seiner sebst bewusst sein und seinen Platz im Reigen virtueller Freizeitangebote aktiv beanspruchen. Dann ist die Zukunft nicht in Gefahr